Miriam Schiller berichtet aus Birmingham

Einleitung

Ich arbeite seit einem Jahr als Ärztin im Zentrum für Tuberkulosekranke und -gefährdete in Lichtenberg, das zum Gesundheitsamt gehört. Mich hat interessiert, wie die klinische Versorgung und die public health Aspekte der Tuberkulose in einem anderen Land und einer anderen Stadt organisiert sind und mich daher für den LOGO Austausch interessiert. Meine Hospitation habe ich nicht in der Stadtverwaltung, sondern vor allem in einem Tuberkulose-Zentrum, das Teil des NHS (National Health Service) ist. Ich habe im Vorfeld recherchiert, wo interessante Orte für den Austausch sein könnten – vor allem Orte mit hoher Inzidenz und dann verschiedene Ärzt*innen angeschrieben und nachgefragt, ob eine Hospitation möglich ist. In Birmingham ist die Versorgung der Tuberkulose vor allem in diesem Zentrum lokalisiert, sodass ich mir erhoffte in 4 Wochen die Versorgung aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten zu können.

Birmingham als Stadt und ihre Besonderheiten:

Birmingham ist die zweitgrößte Stadt von Großbritannien und als Stadt in der industriellen Revolution durch Gewerbe groß geworden. Ähnlich zu den Gastarbeitern in Deutschland gab es in den 50er und 60er Jahren eine Einwanderungswelle durch Anwerbung von Arbeitern aus Südasien und viele von ihnen arbeiteten in Fabriken in Birmingham, die z.B. Füllfedern herstellten. Dieser historische Hintergrund führte dazu, dass Birmingham heute eine von 2 englischen Städten mit mehrheitlich nicht weißer Bevölkerung ist.
Ich habe mich für einen Aufenthalt in Großbritannien entschieden, da ich mit der Sprache und dem Gesundheitssystem vertraut bin und es mir daher leichter fiel, Informationen zu finden. Es ist mir schließlich gelungen mit dem Leiter des Tuberkulose Service in Birmingham in Kontakt zu treten.
Tuberkulose ist eine Erkrankung die in UK und Deutschland vor allem (75%) bei Menschen auftritt, die außerhalb des Landes geboren sind. Birmingham hat daher eine hohe Fallzahl, etwa gleich hoch wie Å·ÃÀÊìÅ®ÂÒÂ× bei einer Einwohnerzahl von 1,1 Mio.
Vor meiner Abreise nach Birmingham musste ich ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen, eine Immunität gegen Masern nachweisen und einen Tuberkulosetest machen. Außerdem war ein persönliches Erscheinen im Krankenhaus zur Identitätsüberprüfung vor dem Start notwendig. Noch am selben Tag konnte ich mich mit Martin Dedicoat, dem Leiter der Tuberkulosestation, treffen und den Ablauf der ersten Tage besprechen.

1. Woche

Da ich schon in England war, bin ich am Sonntag mit dem Zug von Glasgow nach Birmingham gefahren. Über Airbnb hatte ich eine Bleibe gefunden und konnte noch am Sonntagabend einziehen. Mein Start am Montag war erst nachmittags, da ich mich dann mit Martin zu seiner Sprechstunde treffen konnte und vorher noch für die Woche einkaufen konnte.

Ich begann die Woche in der Birmingham Chest Clinic, einer über 100 Jahre alten Ambulanz in der Innenstadt von Birmingham, in der die Schwestern der Tuberkulosestation untergebracht sind und 2x wöchentlich eine Tuberkulose-Sprechstunde stattfindet.
In der Sprechstunde stellten sich entweder Patient*innen vor, die wegen einer Tuberkulose in Behandlung waren und zur Verlaufskontrolle kamen oder die bei einem von der Pflege durchgeführten Screening einen positiven Bluttest hatten und zur weiteren Befundbesprechung und Behandlung kamen.
Es zeigte sich, dass die Arbeitsteilung zwischen Ärzt*innen und Pflege in den UK anders aufgebaut war. Jede*r Patient*in wurde einer Pflegekraft zugeteilt, die als primäre Ansprechpartner*innen dienten. Über sie wurden viele Verlaufskontrollen abgefangen, Blut abgenommen, Vorsorgeuntersuchungen eingeleitet. In der Sprechstunde wurde schon viel von dem gemacht, was hier ärztliche Aufgabe ist.
Das Screening von Immigrant*innen auf Tuberkulose wird in Großbritannien für alle empfohlen, die aus Hochrisikogebieten kommen und in den letzten 5 Jahren zugezogen sind. Entweder werden sie von den Hausärzten zum Bluttest überwiesen oder der Test wird durch den/die Hausärzt*in abgenommen und die Überweisung erfolgt bei positivem Test.
In Å·ÃÀÊìÅ®ÂÒÂ× Ã¼bernimmt das Gesundheitsamt den ersten Teil der Diagnostik, für die Behandlung müssen wir unsere Klient*innen aber immer an Praxen oder Ambulanzen überweisen.
Die Diagnose und Behandlung von Tuberkulose wird in Großbritannien komplett vom Staat bezahlt und ist nicht von einer Versicherung unter dem National Health Service abhängig.
Am Dienstag lernte ich die Arbeit auf der Infektionsstation des Birmingham Heartlands Hospital kennen, einem von 3 Krankenhäusern in Birmingham, die Patient*innen mit Tuberkulose stationär und ambulant versorgen. Martin zeigte mir das Krankenhaus und das auf dem Gelände befindliche Labor, eines von 2 Laboren in England und Wales, die mykobakterielle Proben untersuchen.
Am Nachmittag nahm mich eine der Schwestern mit in die Ambulanz, wo eine Screening-Sprechstunde mit Personen stattfand, die Kontakt zu Tuberkulosekranken hatten oder neu eingereist waren, außerdem wurden BCG-Impfungen bei Säuglingen durchgeführt. Diese Impfung wird in Deutschland nicht mehr angewendet, in Großbritannien ist sie für Kinder von Menschen aus Hochrisikogebieten indiziert.
Am Mittwoch traf ich mich mit Vicky, einer Oberärztin der Kinderklinik, die mich mit in ihre Sprechstunde nahm, in der die Verlaufskontrollen und die Behandlung der latenten Tuberkulose stattfanden. Nach der Arbeit fuhr ich mit dem Bus in den Süden, um mir ein Fahrrad zu mieten. Der öffentliche Nahverkehr in Birmingham besteht hauptsächlich aus Bussen, die oft im Stau stehen, so dass die Fahrt von meiner Unterkunft zum Krankenhaus über eine Stunde dauerte, mit dem Fahrrad nur 35 Minuten bei Verkehr und englischem Nieselwetter.

Am Donnerstag traf ich mich wieder mit der Nurse Mel, um mit ihr zu den Hausbesuchen ihrer Patient*innen zu gehen, die dort regelmäßig vom Pflegepersonal durchgeführt werden. Wir trafen einen jungen Mann, der ein paar Tage zuvor seine Therapie begonnen hatte und in seiner Wohnung unter Quarantäne stand, eine Frau, die eine DOT (täglich überwachte Therapie) erhielt und die Familie eines jungen Mannes, der mit Nebenwirkungen seiner Medikamente zu kämpfen hatte und bei dem eine Blutabnahme notwendig war. Am Nachmittag war ich wieder in einer Ambulanz.
Am Freitag war wieder Arbeit im Krankenhaus und mittags eine Röntgenbesprechung interessanter Befunde der infektiologischen Patient*innen.
Das Wochenende verbrachte ich in Liverpool, wo ich bis 2020 wohnte, und konnte ein paar alte Freundinnen treffen.

Fazit der ersten Woche

Ich habe in der ersten Woche viel gelernt. Als Kinderärztin hatte ich schon mit der stationären Versorgung von Tuberkulosepatient*innen zu tun, habe aber in meiner Arbeit im Kinderkrankenhaus und in der Praxis wenig Berührungspunkte mit der klinischen Behandlung und den Problemen, die sich daraus für die Patient*innen ergeben.
Die Unterschiede zwischen unserer und der britischen Versorgung wurden deutlich: Die Versorgung aus einer Hand mit Screening, Diagnostik und Therapie ist wesentlich effizienter als die Aufsplitterung in Deutschland, die zusätzliche Termine und Fahrten für die Betroffenen und Kommunikation mit vielen Stellen durch das Tuberkulosezentrum erfordert.
Unterschiede zeigten sich auch bei der Versorgung von Patienten mit infektiöser Tuberkulose. In Å·ÃÀÊìÅ®ÂÒÂ× werden fast alle Erkrankten für mehrere Wochen im Krankenhaus isoliert, bis nachgewiesen ist, dass keine Ansteckungsgefahr mehr besteht, während in Großbritannien schnell eine häusliche Isolierung verordnet wird und Verdachtsfälle ambulant diagnostiziert werden. Dieses Vorgehen ist deutlich ressourcenschonender und stellt eine geringere psychische Belastung dar, stellt aber nicht hundertprozentig sicher, dass alle potenziell infektiösen Personen isoliert werden. Die Patient*innen, die in Å·ÃÀÊìÅ®ÂÒÂ× an TB erkranken sind außerdem viel häufiger in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht, in denen keine Isolierung im Einzelzimmer möglich ist.

Bilder der ersten Woche

die Joggingrunde ums Reservoir

Birmingham Skyline vom Fahrrad

2. Woche

Der Montag begann wieder mit der Ambulanz am Vormittag mit der Versorgung in einer Screeningklinik, in die vor allem unbegleitete Flüchtlinge kamen und am Nachmittag mit Martin. Es fällt auf, dass viele Sprechstunden schlecht besucht sind, die Termine werden nach Anmeldung durch die Hausärzt*innen postalisch an die Patient*innen verschickt, aber nur etwa die Hälfte kommt zu den Terminen.
Am Dienstagmorgen gibt es eine Konferenz aller Krankenschwestern, Pfleger, Ärzt*innen (nehmen nicht immer teil) und einer Ärztin vom Gesundheitsamt. Dort werden alle neuen Tuberkulosefälle besprochen, alle im Krankenhaus, eine Liste mit potentiell schwierigen Fällen und Ausbrüche. Nach dem Treffen ging ich mit Brenda, einer der Schwestern, zu Hausbesuchen im Süden von Birmingham. Bei den Hausbesuchen bringen die Schwestern teilweise Essenspakete zu den Familien, können vor Ort Blut zur Kontaktverfolgung abnehmen und sich ein gutes Bild von den familiären und sozialen Bedingungen der Patient*innen machen. Es ist offensichtlich, dass sich durch die monatelange enge Begleitung oft ein starkes Vertrauensverhältnis entwickelt hat. Bei Problemen haben die Patient*innen eine Telefonnummer der betreuenden Schwester/Pfleger und können besprechen, welche Schritte sinnvoll sind.
Die tägliche überwachte Tabletteneinnahme (DOT) wird hauptsächlich durch 2 Social Support Workers und einen Pfleger durchgeführt, die täglich durch ganz Birmingham fahren, um diesen Patient*innen die Medikamente zu bringen und die Einnahme zu überwachen. Dies ist vor allem bei Menschen mit Suchtproblemen oder psychischen Problemen notwendig.
Den Rest der Woche habe ich weitere der Sprechstunden mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Fällen besucht. Auffallend im Gegensatz zu Å·ÃÀÊìÅ®ÂÒÂ× ist, dass die meisten Patient*innen selbst oder deren Angehörige Englisch sprechen, sodass die Verständigung deutlich leichter ist als bei uns.
Das Pflegepersonal ist divers aufgestellt, sodass es viele Sprachen verstehen kann, die von den mehrheitlich nicht in UK geborenen Patient*innen gesprochen werden, und ist speziell für die Rolle als TB-Nurse ausgebildet.
Zu den Aufgaben der Pflegekräfte gehört es auch, ein elektronisches Postfach zu verwalten, in dem die Verschreibung von TB-Medikamenten automatisch gemeldet wird, sodass jeder Fall dem Team in Birmingham bekannt ist.
Am Samstag nahm ich an einer Stadtführung zur Geschichte der Migration in Birmingham teil, wo anhand einer Straße von den irischen Einwanderern, über die Menschen aus Pakistan und Indien, bis zu Ostafrikanischen Einflüssen die verschiedenen Kulturen beleuchtet wurden.
Den Rest des Wochenendes besuchte ich eine Freundin in London, die ich aus meiner Zeit an der Liverpool School of Tropical Medicine kannte.

TB Ambulanz am Birmingham Heartlands Hospital

3. Woche

Am Montagmorgen fand eine monatliche nationale Konferenz zum Thema MDR (multi drug resistant) Tuberkulose statt, bei der alle neuen Fälle besprochen und die Therapie festgelegt wurde. Um in UK eines der neuen Therapieschemata anwenden zu können, muss der Fall in einem Expertenforum veröffentlicht werden und 3 weitere Ärzte müssen der Behandlung zustimmen.
Am Dienstag lernte ich Dominic kennen, der als Mikrobiologe im Mykobakterienlabor arbeitet und dort die Ergebnisse des Whole Genome Sequencing (WGS) der Proben auswertet. In England werden alle Tuberkuloseproben mittels WGS untersucht und so ein Resistenztest durchgeführt. Durch die genetische Untersuchung kann auch festgestellt werden, ob es an anderer Stelle im Land verwandte Stämme gab und so Infektionsketten nachvollzogen werden. In Å·ÃÀÊìÅ®ÂÒÂ× werden derzeit nur bei speziellen Fragestellungen oder bei multiresistenter Tuberkulose Proben an das Nationale Referenzzentrum geschickt. Zusätzlich wird eine phänotypische Resistenztestung durchgeführt.
Der Rest der Woche verlief ähnlich wie die Woche zuvor mit Sprechstunden und Klinikbesuchen.
Am Wochenende besuchte ich Birmingham Back to Back, ein Museum, das ein traditionelles Haus aus Birmingham zeigt, wie es vor 200 Jahren in Birmingham gebaut und seitdem bewohnt wurde.

Ausstellung über historische Tuberkulosetherapie im Birmingham Heartlands Hospital

4. Woche

In der vergangenen Woche hatte ich dank Martins Vermittlung die Gelegenheit, eine weitere Tuberkulosestation in England zu besuchen, diesmal im Londoner Stadtteil Whitechapel, einem der Orte mit der höchsten Tuberkuloseinzidenz in London. Ich konnte wieder bei meiner Freundin übernachten.
Dort traf ich eine der Oberärztinnen, Heinke, und nahm an ihrer Nachmittagssprechstunde in einer Hausarztpraxis teil und lernte einen Teil des Teams kennen. Am nächsten Tag war eine weitere Sprechstunde in einem anderen örtlichen Krankenhaus und eine Besprechung der aktuellen Fälle. Am Mittwoch nahm ich vormittags an der infektiologischen Visite im Royal London Hospital teil und nachmittags an der Sprechstunde der MDR Tuberkulose Ambulanz.
Mittwochabend war es dann an der Zeit, für die letzten beiden Tage nach Birmingham zurückzukehren.
Am Donnerstag sollte ich eigentlich an der DOT Visite eines Krankenpflegers teilnehmen, diese fiel leider aus und ich war nachmittags in der Sprechstunde von Martin. Freitag ging es dann noch einmal ins Krankenhaus zur Röntgenbesprechung und zur letzten Sprechstunde mit Martin.

Fazit

Die vier Wochen in Großbritannien waren für mich eine unglaublich bereichernde Erfahrung. Das flexiblere System und die staatliche Finanzierung der Tuberkulosebehandlung haben mir wertvolle Einblicke in die Effizienz des Systems gegeben. In Birmingham konnte ich durch die zentrale Organisation der Versorgung alle Aspekte der Tuberkulosebehandlung kennenlernen – von der Diagnostik bis zur Therapie. Die Unterschiede zwischen den beiden Systemen haben mir gezeigt, dass es in Deutschland vor allem auf politischer Ebene Veränderungen braucht, um ähnliche Vorteile wie in Großbritannien zu erzielen.
Die Versorgungssituation in Deutschland steht vor der zusätzlichen Herausforderung, dass, dass viele Menschen, die an einer Tuberkulose erkranken schlechter oder gar nicht sozial abgesichert sind und keine eigene Wohnung haben.
Ich bin sehr dankbar für die Unterstützung von Martin Dedicoat, der mir nicht nur fachliche Einblicke gab, sondern auch seine Zeit und sein Wissen mit mir teilte. Die Erfahrungen, die ich in Birmingham und London gesammelt habe, werde ich in meiner Arbeit im Tuberkulosezentrum in Lichtenberg gut nutzen können.